Get ready guys … 10 seconds!

Hätte ich damals, an jenem gemütlich gestarteten Feiertag vor fünf Jahren – es war dieser denkwürdige Donnerstagmorgen des 17. Juni 2019 – geahnt, was auf mich zukommt, hätte ich wohl schon viel früher den Mut fassen sollen. Doch der Reihe nach …

Ursprünglich wollte ich diesen Feiertag dazu nutzen, die in den Nächten zuvor teilweise schlaflos verbrachten Stunden durch ausgiebiges „Liegenbleiben“ zu kompensieren. Doch meine bessere Hälfte beendete mein Vorhaben abrupt mit der Ankündigung, dass sie mich für heute beim CrossFit angemeldet hatte. Seit einigen Monaten trainierte sie bereits dort und berichtete mir jeden Abend ausführlich von den Strapazen und der “Community” in der sogenannten CrossFit Box. Mit skeptischem Ohr lauschte ich ihren Erzählungen und dachte mir insgeheim: „Ich bleibe lieber bei den Disco-Pumpern im McFit. Dort kann ich mein eigenes Tempo bestimmen und ehrlich gesagt, wer braucht schon Rudern? Ganz zu schweigen von dieser sektenartigen Atmosphäre.“ Trotz allem Gejammer und Gezeter überzeugte sie mich schließlich: „Willst du beim nächsten Aufstieg zur Burg Hohenzollern wieder dreimal Pause machen?“ Das traf mich bis ins Mark, und ich konnte es auf keinen Fall auf mir sitzen lassen. Was sollte schon groß passieren? Lauftraining würde ich wegen meiner Fußverletzung einfach versuchen, charmant zu umschiffen, und die Hanteln bereiteten mir jetzt keine Sorgen. Ein bisschen vornehm zurückhalten und hier und da die Muskeln spielen lassen. Schließlich bin ich ja kein Schwächling. Nie hatte ich mich zuvor mehr getäuscht, als an diesem Tag.

Als wir die letzte Kurve im kleinen Industriegebiet nahmen und nach einem Parkplatz vor der Halle suchten, überkam mich ein Gefühl, als wäre ich der Neuling in der Klasse, der sitzengeblieben ist und sich nun mit 25 neuen Mitschülern auseinandersetzen muss. Während ich meine Tasche aus dem Auto nahm und gemächlich Richtung Eingang schlenderte, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass ich kein sportlicher Außenseiter bin. Schließlich war ich seit meinem 16. Lebensjahr ein treuer Besucher der angesagtesten Fitnessstudios der Stadt.

CFRT Coach

Dennis Hildebrandt (Head-Coach und Inhaber von CrossFit Reutlingen) begrüßte mich mit einem süffisanten Lächeln, wohl wissend, was gleich auf mich wartete. Nach einem kurzen Blick auf die anderen Teilnehmer zog ich mich in die Umkleide zurück. "So schlimm kann es nicht werden", dachte ich ... "sobald es ernst wird, werde ich schon meinen Moment haben." Wir stellten uns im Kreis auf und nach einer kurzen Einführung stellte sich jeder Teilnehmer der sogenannten "Class" vor. Ich versuchte, mir die Namen zu merken, doch das Adrenalin ließ mich schon beim zweiten Namen scheitern.

Wir begannen mit dem Warm-Up und ich musste zu meiner Schande feststellen, daß weder meine Mobilität ausreichte, noch einfachste Übungen mit Körpergewicht ohne eine äußerst erhöhte Herzfrequenz möglich waren. Das war doch eigentlich alles Schulsport-Niveau … wo war denn meine (selbst eingebildete) Form? Warum griff das bisherige Bodybuilding-Training nicht? Gibt es hier irgendwo Sauerstoff in Flaschen? Ich könnte gerade eine extra Dosis vertragen.

Crossfit Reutlingen
Crossfit Reutlingen

Als die Aufwärmrunde sich dem Ende neigte und Coach Dennis mich mit einigen Übungen für den “Kraftteil” zurückließ, kam das Selbstvertrauen zurück. Langhanteln, Kurzhanteln, Flachbänke … ich war in meinem Element. Jeder arbeitete für sich und ein Gefühl der Sicherheit breitete sich aus. Warum hatte ich mir nur Sorgen gemacht? Ich könnte sicher noch mehr Gewicht auflegen, ich wollte aber nicht sofort den Anschein des Angebers durchblitzen lassen.

Als alle fertig waren, schlenderte ich entspannt zur Theke, wo mein köstliches Kaltgetränk auf mich wartete und ich – zufrieden mit meinem “Training” – etwas entspannen konnte. Eine erste Kontaktaufnahme mit den anderen Mitstreitern und ein gelächeltes “Puh” sollte schwitzende Sympathisanten in unserer Gruppe finden. Die lockere Atmosphäre wurde jedoch abrupt unterbrochen, als Dennis mich mit energischem Ton fragte: “Können wir dann mit dem WOD beginnen? Wir warten nur noch auf dich!”

Ungläubig starrte ich erst ihn und dann die restlichen Anwesenden an. Einige von ihnen warfen mir Blicke zu, die unmissverständlich verrieten: “Mach hin, Alter”. Ich hielt die Ansage zunächst für einen Scherz, begriff aber sehr zügig den “Ernst der Lage” und begab mich zu den anderen. “Was für ein WOD? Ich dachte wir sind durch? Was ist das für ein Verein? Hinterlistiger Kerl, dieser Dennis. Mich erst in Sicherheit wiegen und jetzt kommt noch die Breitseite, oder wie?” (Anm.: WOD steht für "Workout of the day" also Workout des Tages).

Da ich mir meiner Schwächen bewusst war, laß sich das kommende WOD wir das Tor zur Hölle:

4 Runden – Zeitansatz 20min.
400m Laufen (alle 100m > 20 AirSquats)
30 Double Dumbbell Push Press
250m Rudern
30 Sit-Ups

Laufen war für mich schon immer eine unliebsame Herausforderung. Bei der Bundeswehr erreichte ich das deutsche Sportabzeichen nur deshalb, weil man die 3000m Laufen durch 1000m Schwimmen ersetzen durfte. Die Dumbbell (Kurzhantel) Push Press (im Prinzip Nackendrücken mit etwas Schwung) hingegen klangen unproblematisch … selbst mit den geforderten 22,5 Kg je Hand. Dennoch entschied ich mich für etwas konservativere 10Kg pro Seite, da ich komischerweise hier irgendeine versteckte Falle witterte. Die Sit-Ups stiegen auch nicht in meine persönliche Hitparade auf und das Rudern mir war eine bisher gänzlich unbekannte Form der Energieverbrennung.

Als ich sah, wie sich Jürgen – einer der anderen Teilnehmer mit etwas mehr Lebenserfahrung – die schweren Gewichte zurecht legte, fasste ich fast schon so etwas wie Zuversicht und wartete auf den Startschuss. Dankbar durfte ich das Laufen auf Grund einer immer noch nicht Verheilten Verletzung durch Skiing (Skilanglauf) an der Maschine ersetzen. Das hatte ich als Kind schon immer im Fernsehen gesehen. Das dürfte doch eigentlich kein Problem sein. Mit einem breiten Grinsen dachte ich nur: “Wo ist Behle?”

Get ready guys ... 10 seconds!

Wie versteinert starrten einige auf den Countdown an der Wand, den Beginn der ersten Runde erwartend. Der Start-Ton ertönte und schnell ging es für die anderen hinaus, raus in die vermeintlich freie Welt in der fremde Anweisungen befolgt werden und Wettbewerb alles ist. Vor allem aber der Kampf gegen den Schweinehund, die Faulheit, die Bequemlichkeit. Also eigentlich gegen sich selbst.

Während meine Mitstreiter ihre Runden drehten, zog ich wie von Sinnen an zwei gelben Griffen und versuchte die Zahlen vor mir auf dem Display logisch zu deuten. Nach 100 virtuellen Metern sollte ich kurz “pausieren” und währenddessen 20 Kniebeuge (AirSquats) zu absolvieren. Gesagt, getan. Nach 4x100m+4x20 AirSquats wendete ich mich den zurecht gelegten Kurzhanteln zu um hier zu brillieren, hatte ich doch das Gewicht so gewählt, wie ich sonst nur für eine Aufwärmrunde beim Schultertraining in Betracht zog. Bereits nach wenigen Sekunden wurde mir jedoch klar, daß dies hier von einem anderen Kaliber zu sein schien. Arme und Schultern gingen aus Prinzip in eine Art kollektiven Streik und die als Kammerflimmern empfundene Herzfrequenz stimmte fröhlich in den Kanon aller Extremitäten mit ein. Thanks, but no thanks. Angefeuert vom eigenen Ego und getrieben von der Angst, mir die Blöße geben zu müssen, ignorierte ich alle Warnzeichen und signalisierte auf den fragenden Blick meines Coaches nur mit einem entschlossenen Daumen hoch. Wenn der wüßte, daß ich kurz davor bin, die Einfahrt mit einem Auswurf zu dekorieren.

Die Schnellsten hatten Runde eins längst abgeschlossen und begannen bereits, sich vereinzelt in die zweite oder gar dritte Runde zu stürzen. Unterdessen schleppte ich mich, halb ohnmächtig von Rudern und Sit-Ups, taumelnd zur Ski-Maschine. Ab und zu flackerten Bilder meiner Jugend vor meinem inneren Auge auf, Erinnerungen an eine Zeit, in der Begriffe wie „verletzungsfrei“ und „Abnutzungserscheinung“ noch nicht im Vokabular existierten.

Der Timer der Uhr tickte unaufhörlich weiter und zeigte mir unbarmherzig meine Grenzen auf … aber eben auch das nahende Ende der schmerzhaften Tortur. Einige waren bereits fertig, andere kämpften tapfer weiter und „genossen“ ihre letzten Meter auf dem Rudergerät. „One Minute!“ schmetterte es lautstark durch den Raum. Das Licht am Ende des Tunnels, greifbar nah durch die Ansage des Coaches. Nur noch ein paar wenige Wiederholungen. Jetzt alle Reserven mobilisieren. Den Zorn über die parallel laufend frustrierende Bestandsaufnahme der eigenen Fitness und die simplen Gesetze der Schwerkraft in pure Energie umwandeln. Das war mein Mantra. Nebenbei gedanklich jede Chips-Tüte, jeden Burger und jede Pizza der letzten Monate verfluchen. Die mangelnde eigene Disziplin auf dem Silbertablett serviert bekommen ... danke für nichts!

Plötzlich registrierte meine periphere Wahrnehmung eine Traube an Personen, die sich um mich gebildet hatte. “Auf!” … “Weiter!” … “Dran bleiben!” … “Los. Noch mal alles raus holen!” – Ich wurde gefühlt in Dolby Surround lauthals zu Höchstleistungen motiviert und mein Kopf schaltete plötzlich in einen bis dato unbekannten Modus: Entweder du stirbst hier und jetzt, oder du legst noch mal einen Gang zu. Jede Muskelfaser flehte um Hilfe, sämtliche Sehnen und Gelenke riefen nach Erbarmen und alles was zwischen mir und dieser Uhr stand war dieses Rudel an völlig ausrastenden, die mich anschrieen, als würde es um Leben und Tod gehen.

5 … 4 … 3 … 2 … 1 … Tiiiiiiiiiiiiiiime!

Die Zeit war um. Mein Körper sackte einfach zusammen. Genau dort, an Ort und Stelle, mitten in der dritten Runde. Ich hatte überlebt. Ich hatte weder gekniffen noch war ich kollabiert. Der Schweinehund hat meine Faust direkt in sein dummes Gesicht bekommen … und zwar mit Anlauf. Ein grandioses Gefühl begleitete diese Nahtod-Erfahrung > der Triumph über den Schmerz und die Erleichterung, doch noch nicht für den Gnadenhof bestimmt zu sein. All das sammelte sich in einer leckeren Mixtur aus Serotonin und Endorphinen und ließ mich zurück mit demselben süffisanten Lächeln, mit dem Dennis mich zuvor begrüsst hatte. "Hier ist er … der Mittelfinger der Gewinner, auch wenn ich tabellarisch gesehen Letzter wurde. You did not break me!"

Wie üblich, zum Ende eines jeden WODs, gaben sich alle Teilnehmer gegenseitig ein ordentliches High-Five um zu den absolvierten Leistungen zu gratulieren. Noch immer am Boden liegend streckte ich meinen Arm jedem Einzelnen entgegen, in der Hoffnung, von irgendwem sanft gebettet zur Theke getragen zu werden. Meine zuvor abgestellte Flasche mit dem restlichen Nektar der Wiedergeburt stand immer noch dort, und ich nahm sie demütig in Empfang, wie einen Kelch Wein beim Abendmahl. Dennis genoss sichtlich die erfolgreiche Umsetzung seines subtil sadistischen Plans und wusste genau, dass er mich dort hatte, wo er mich haben wollte. Wie ein Lemming folgte ich der Herde, bereit mich in den Abgrund zu stürzen. Ähnlich eines Junkies nach dem ersten Schuss, bereit alles zu tun, um das Ganze wieder und wieder zu erleben. Ich war hooked. Ich wollte mehr. Gib mir den verdammten Stift. Wo muss ich unterschreiben?

Zu Hause angekommen, verließ ich das gesamte Wochenende – begleitet vom Spott der gesamten Familie – weder das Haus noch das Stockwerk. Ich schlug mein Nachtlager auf dem Sofa im Erdgeschoss auf und mied auf Grund völliger Überlastung der gesamten Beinmuskulatur jegliche Treppen. Mein Körper sprach definitiv eine klare Sprache > ein unmissverständliches "Nein". Ich musste ausweglos der harten Wahrheit ins Auge zu sehen – Ich war einfach keine 20 mehr.

Nichtsdestotrotz ... so gut wie an diesem Abend hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Und kurz vor Fall ins Land der Träume hörte ich bereits den dumpfen, leisen und verheißungsvollen Ruf aus der Ferne: “Get ready guys … ten seconds!”