Get ready guys … 10 seconds!
Hätte ich damals, an jenem gemütlich gestarteten Donnerstagmorgen im Juni 2019, geahnt, was auf mich zukommt – ich hätte wohl schon viel früher den Mut gefasst. Aber der Reihe nach …
Ursprünglich wollte ich diesen entspannten Feiertag dazu nutzen, die in den Nächten zuvor teilweise schlaflos verbrachten Stunden durch ausgiebiges „Liegenbleiben“ zu kompensieren. Doch meine bessere Hälfte durchkreuzte meine Pläne mit der Ankündigung, sie habe mich für heute beim CrossFit angemeldet.
Seit einigen Monaten trainierte sie dort schon fleißig und berichtete mir jeden Abend ausführlich von den Strapazen und der „Community“ in der „CrossFit Box“. Mit skeptischem Ohr lauschte ich ihren Erzählungen und dachte mir insgeheim: „Ich bleibe besser bei meinen Disco-Pumpern im McFit – dort bestimme ich das Tempo. Und mal ehrlich: Wer braucht schon Rudern? Ganz zu schweigen von dieser sektenartigen Atmosphäre.“
Trotz allem Gejammer und Gezeter überzeugte sie mich schließlich: „Willst du beim nächsten Aufstieg zur Burg Hohenzollern wieder dreimal Pause machen müssen?“ Das hatte gesessen.
Natürlich konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen. Was sollte schon groß passieren? Lauftraining würde ich wegen meiner Fußverletzung charmant umschiffen, und die Hanteln bereiteten mir wenig Sorge. Ein bisschen vornehm zurückhalten und hier und da die Muskeln spielen lassen – schließlich bin ich ja kein Schwächling …
…nie hatte ich mich zuvor mehr geirrt als an diesem Tag.
Als wir die letzte Kurve im kleinen Industriegebiet nahmen und nach einem Parkplatz vor der Halle suchten, überkam mich das Gefühl eines Neulings, der sitzengeblieben ist und sich nun einer vollkommen neuen Klasse stellen muss. Während ich meine Tasche aus dem Auto holte und gemächlich Richtung Eingang schlenderte, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass ich kein sportlicher Außenseiter bin. Schließlich war ich seit meinem 16. Lebensjahr ein treuer Besucher der angesagtesten Muckibuden der Stadt.
Dennis, Head-Coach und Inhaber von CrossFit Reutlingen, begrüßte mich herzlich mit einem süffisanten Lächeln. Nach einem kurzen Blick auf die anderen Teilnehmer zog ich mich in die Umkleide zurück. „So schlimm kann es nicht werden“, dachte ich. „Sobald es ernst wird, werde ich schon meinen Moment haben.“ Wir stellten uns im Kreis auf, und nach einer kurzen Einführung stellte sich jeder Teilnehmende der sogenannten „Class“ vor. Ich versuchte, mir die Namen zu merken, doch das Adrenalin ließ mich spätestens bei der zweiten Person scheitern.
Das Warm-up begann – und ich musste zu meiner Schande feststellen, dass weder meine Beweglichkeit ausreichte, noch einfache Körpergewichtsübungen ohne kritischen Pulsanstieg möglich waren. Das war doch eigentlich alles Schulsport-Niveau … Wo war meine (eingebildete) Form geblieben? Warum griff all das Bodybuilding-Training nicht? Gibt es hier irgendwo Sauerstoff in Flaschen? Ich könnte gerade eine Dosis gebrauchen.


Als die Aufwärmrunde sich dem Ende zuneigte und Dennis mich mit ein paar Übungen für den „Kraftteil“ allein ließ, keimte ein Anflug von Selbstvertrauen auf. Langhanteln, Kurzhanteln, Flachbänke – mein Revier. Jeder arbeitete konzentriert, ein Gefühl der Sicherheit breitete sich aus. „Warum hatte ich mir Sorgen gemacht? Ich könnte eigentlich noch mehr Gewicht auflegen. Hmm ... nur nichts übertreiben.“
Entspannt schlenderte ich danach zur Theke, mein Kaltgetränk fest im Blick. „Erst mal kurz entspannen – war doch gar nicht so schlimm.“ Die Atmosphäre war locker, erste Gespräche entstanden. Doch Dennis unterbrach das wohlige Gefühl abrupt: „Können wir dann mit dem WOD beginnen? Wir warten nur noch auf dich!“ (WOD = Workout of the day)
Ungläubig starrte ich ihn an – und danach in die Runde. Einige Blicke der anderen sagten unmissverständlich: „Mach hin, Alter. Wir haben nicht ewig Zeit.“ Ich hielt es zuerst für einen Scherz, begriff aber schnell den Ernst der Lage. Was für ein WOD? Ich dachte, wir sind durch? Dennis, du Fuchs. Mich erst in Sicherheit wiegen und dann die Breitseite liefern, ja?
Die Liste der Übungen auf dem Whiteboard las sich wie ein direkte Einladung in die Hölle:
4 Runden – Zeitlimit 20 Minuten
400 m Laufen > alle 100 m > 20 AirSquats (freie Kniebeuge)
30 Double Dumbbell Push Press (Nackendrücken mit Kurzhanteln)
250 m Rudern
30 Sit-ups
Laufen war noch nie meine Disziplin. Bei der Bundeswehr rettete die Option, 3000 m Laufen durch 1000 m Schwimmen zu ersetzen, mein Sportabzeichen. Die Push Press klangen erträglich – 22,5 Kg pro Hand wären zwar sportlich, aber machbar. Dennoch entschied ich mich weise für 10 Kg – ich traute der Sache irgendwie nicht. Sit-ups rangierten ebenfalls nicht in meiner persönlichen Hitliste, und Rudern war mir bis dato völlig fremd.
Neben mir legte sich Jürgen, ein gestählter Best-Ager mit einem versteckten Sixpack unter dem Shirt, die schweren Gewichte zurecht. Meine Zuversicht sank – der Typ war offensichtlich ein Profi. Zum Glück durfte ich das Laufen aufgrund meiner Verletzung durch simulierten Skilanglauf am SkiErg ersetzen. Das kannte ich von der Winter-Olympiade aus dem Fernsehen – was sollte da schon schiefgehen? Grinsend dachte ich kurz: „Wo ist Behle?“
Get ready guys ... 10 seconds!
Wie versteinert blickten wir auf den Countdown. Dann ertönte das Signal – und die anderen sprinteten los. Rein in den Kampf: gegen den Schweinehund, gegen Bequemlichkeit… im Grunde gegen sich selbst.


Während meine Mitstreiter draußen liefen, zog ich drinnen wild an den gelben Griffen des SkiErgs. Nach 100 virtuellen Metern hieß es: 20 AirSquats. Gesagt, getan. 4 x 100 Meter, 4 x 20 Squats – dann die Kurzhanteln. Eigentlich mein Terrain. Doch schon nach Sekunden gaben Arme und Schultern den Dienst auf, während mein Puls in astronomische Höhen schoss.
Danke. Für nichts!
Vom Ego getrieben ignorierte ich alle körperlichen Warnungen und signalisierte Dennis nur mit einem Daumen hoch: „Alles gut.“ Wenn der nur gewusst hätte, dass ich kurz davor war, den Boden mit einem gediegenen Auswurf zu dekorieren.
Die Schnellsten hatten längst zwei, manche sogar drei Runden absolviert. Ich schleppte mich halb ohnmächtig vom Rudern zu den Sit-ups, dann wieder zum SkiErg. Bilder einer behüteten Jugend flackerten vor meinem inneren Auge auf: Zeiten, in denen „verletzungsfrei“ noch Normalzustand war. Der Timer tickte gnadenlos. Das Ende rückte näher. „One minute!“, schmetterte Dennis in den Raum. Das Licht am Ende des Tunnels – fast greifbar. Noch ein paar Wiederholungen. Alles mobilisieren. Den Frust über jede Chips-Tüte und den Hass auf jeden Burger der letzten Monate in pure Energie verwandeln. Mein Mantra: Don't quit – Do it.
Plötzlich formierte sich eine Traube um mich. „Weiter!“ – „Dran bleiben!“ – „Los, hol alles raus!“ Motivation pur in Dolby-Surround. Mein Kopf schaltete in einen bis dato unbekannten Modus: Jetzt oder nie. Jede Faser schrie, jede Sehne bettelte und alle Zellen meines Körpers definierten die Grenzen neu.
5 … 4 … 3 … 2 … 1 … Tiiiiiiiiiiiiiiime!
Ich sackte in mich zusammen. Genau dort, mitten in der dritten Runde. Ich hatte überlebt. Nicht gekniffen, nicht kollabiert. Der Schweinehund hatte meine Faust mitten in sein dummes Gesicht bekommen – und zwar mit Ansage. Es war Triumph und Erleichterung zugleich, gewürzt mit Serotonin und Endorphin. Genau das süffisante Lächeln, mit dem Dennis mich begrüßt hatte, zierte jetzt mein Gesicht. „You did not break me.“
Wie nach jedem WOD üblich beendeten wir das Training mit einem ordentlichen High-Five – gegenseitiger Respekt für den Kampf gegen sich selbst. Noch immer am Boden liegend, reichte ich jedem die Hand in der leisen Hoffnung, jemand möge mich doch bitte an die Theke tragen. Mein Getränk wartete – der köstliche Nektar der Wiedergeburt. Dennis sah zufrieden aus, sein Plan war aufgegangen. Ich war hooked. Ein Lemming auf dem Weg in den Abgrund – süchtig nach dem nächsten Schuss, dem Gefühl der Überwindung.
„Gib mir endlich den verdammten Stift zum Unterschreiben.“
Zu Hause angekommen, verließ ich das ganze Wochenende – begleitet von Spott und Hohn meiner Familie – weder das Haus noch die Etage. Ich quartierte mich auf dem Sofa im Erdgeschoss ein und mied jede Treppe. Mein Körper sprach eine klare Sprache: ein entschiedenes „Nein“. Ich musste mir eingestehen – ich war einfach keine 20 mehr. Und dennoch: So gut wie an diesem Abend hatte ich lange nicht mehr geschlafen. Kurz bevor ich ins Land der Träume glitt, hörte ich ihn schon wieder, leise, verheißungsvoll aus der Ferne:
„Get ready guys … ten seconds.“












